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Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie (IKAÖ)

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Forschung

Neue Dinge für eine nachhaltige Entwicklung. Ansätze zu einer Kulturpsychologie nachhaltigen Produktdesigns


Bearbeiterin:
Kirsten Thiemann

Betreuung:
Prof. Dr. Ruth Kaufmann-Hayoz (Erstgutachterin)
Universität Bern
Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie (IKAÖ)

Prof. Dr. Christian Allesch
Universität Salzburg

Zweitgutacher:
Prof. Dr. Gerhardt Fassnacht
Universität Bern

Laufzeit:
2002-2006

Zusammenfassung:

Mit den schnellen technischen Entwicklungen seit etwa einem Jahrhundert gingen ein rascher Anstieg der Umweltbelastungen und radikale Veränderungen der soziokulturellen Muster im Alltagsleben einher, was mithin auch eine subtile Erosion emotionaler Bindungen zur Lebenswelt mit sich führte. Solche Phänomene sind nicht zwangsläufig mit technischer Entwicklung verbunden. Vielmehr sind sie abhängig davon, welche technischen Systeme Eingang in die gesellschaftliche Praxis finden und wie sie in den Handlungsalltag eingebettet werden. In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie man technische Innovationen gestalten und in den Lebensalltag einführen müsste, wenn man möglichst “nachhaltige Koevolutionen” von Menschen mit diesen Dingen, d.h. die Ausbildung von darauf bezogenen Handlungsgewohnheiten und sozialen Umgangsformen begünstigen möchte, welche unter ökologischer, psychosozialer und monetärer Perspektive wünschbar sind. Ziel der Arbeit ist also die Entwicklung allgemeiner Anregungen für einen nachhaltigen Produktdesignprozess.

Diesem Kerninteresse wird einerseits anhand theoretischer Überlegungen wie andererseits anhand einer eigenen Fallstudie nachgegangen. Auf theoretischer Ebene einbezogen werden verschiedene umwelt- und kulturpsychologische Ansätze zur regulativen Rolle räumlich-dinglicher Strukturen im Bereich psychosozialer Prozesse und naturbezogenen Handelns. Ein besonderes Interesse gilt auch der Bedeutung von Orten und Dingen im Prozess des Heimisch-Werdens in der Welt, welcher auf eine untergründige Art mit der Frage verbunden scheint, wie wir für unsere soziale und natürliche Umwelt Sorge tragen. Auf der Basis der theoretischen Reflexionen werden erste Anregungen für einen nachhaltigen Produktdesignprozess formuliert, welche anhand der Fallstudie zum Teil bestätigt, zum Teil ergänzt und differenziert werden.

Die eigene Fallstudie widmet sich einer technischen Innovation im Sanitärbereich, der s.g. NoMix Toilette, mit deren Hilfe Urin an der Quelle abgetrennt und zur separaten Aufbereitung weitergeleitet wird. Die NoMix Toilette an sich ist keine radikale Neuerung. Sie verlangt lediglich kleine Änderungen WC-bezogener Handlungsgewohnheiten: So sollte man sich für das kleine Geschäft absetzen, die kleine Spültaste benutzen, wenn man Wasser sparen möchte und Zitronensäure benutzen, um es zu putzen. Doch berührt sie einen kulturell tabuisierten Handlungsbereich, der von tief verankerten Gewohnheitshandlungen geprägt ist, welche eine bestimmte symbolische Bedeutung für die Geschlechtsidentität haben können. Die Toilette wurde probeweise in zwei Pilotprojekten – einem privaten Neubauprojekt und einer Gewerbeschule ­– installiert. Im dem privaten Wohnbauprojekt war sie eine unter vielen technischen Innovationen, die hier erprobt wurden.
In der Fallstudie wird der Prozess der Einbettung dieses Systems in den Handlungsalltag verschiedener Benutzerinnen rekonstruiert und nach Bedingungen im Design- und Einführungsprozess dieser Innovation gesucht, welche eine «nachhaltigen Koevolution» mit dieser Neuerung erleichtern und erschweren. Dieses Kernstück der Fallstudie gliedert sich in drei Teile: eine Medienalyse zur Bestimmung der Produktkommunikation, eine vorwiegend quantitative Teilstudie zu den sich entwickelnden Verhaltensmustern im institutionellen Setting und eine vorwiegend qualitative Teilstudie zur Umgangskultur im Privatwohnbereich. Als Verständnishintergrund werden historische Betrachtungen sowie eine Einzelfallstudie zu den badtypischen Nutzungsmustern eines modernen Städters vorangestellt, um auf diese Weise den Kulturzeitraum und Handlungskontext zu bestimmen, in dem diese Innovation stattfindet und Sinn machen soll.

Aus Theorie und Fallstudie können verschiedene Erkenntnisse und Anregungen für einen nachhaltigen Produktdesignprozess abgeleitet werden. Eher ungünstige Voraussetzungen für die nachhaltige Koevolution mit neuen Dingen bestehen demnach in der mangelnden «Passung» technischer Innovationen mit der Kultur von Individuen und menschlichen Gemeinschaften. Dies zeigt sich in der Teilstudie im Privatwohnbereich etwa darin, dass die Notwendigkeit, sich auf dem Trenn-WC abzusetzen, für einzelne männliche Untersuchungsteilnehmer ein Problem darstellte, was in einem Fall auch zu kleineren Auseinandersetzungen und schliesslich zum Wunsch führte, das WC wieder auszubauen. Im institutionellen Setting zeigte sich, dass sich viele Frauen aufgrund ihrer kulturellen Hygienevorstellungen nicht absetzen.

Ein weiteres Hindernis für eine nachhaltige Koevolution ist gemäss den phänomenologischen Betrachtungen zur Bedeutung von Räumen und Dingen im «Daheim» die teilweise bestehende Fremd- oder Expertenbestimmtheit und Willkür postmoderner Erneuerungsprozesse. Auch dieser Punkt wird durch die Fallstudie gestützt. Das private Wohngebäude, in dem vier Toiletten probeweise installiert wurden, war ein Neubauprojekt, in dem aufgrund hoher ökologischer Werte seiner Erbauer bereits eine ganze Reihe von technischen Innovationen verwendet und erprobt wurden, womit von den Bewohnern nicht allein auf der Ebene des Toilettensystems kleine Verhaltensänderungen abverlangt waren. Es kam hinzu, dass aus technischen Gründen die Platzierung der Toiletten nur in vier bestimmten Wohnungen möglich war, weshalb die betroffenen Neuzuzügler vorab nicht nach ihrem Einverständnis gefragt werden konnten. Dies hat trotz einer weitgehend frühzeitigen und sorgfältigen Information durch die Projektbeteiligten bei manchen Untersuchungsteilnehmern zu unguten Gefühlen der Neuerung gegenüber beigetragen.
Eine weitere Problematik mit Blick auf die Ausbildung naturfreundlicher Handlungsgewohnheiten ist die Ausgrenzung von «Natur» – sei dies unsere eigene menschliche oder die äussere Natur – in unseren kultürlichen Raum- und Zeitstrukturen. Oft werden bei der Gestaltung neuer Dinge menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu wenig berücksichtigt. Auch sind Sinnzusammenhänge zwischen unserem eigenen Handeln und seinen Auswirkungen auf die natürliche Umgebung unserer Wahrnehmung entzogen. Die NoMix Toilette stellt solche Bezüge grundsätzlich wieder her. Es zeigte sich jedoch, dass etwa im institutionellen Setting das Zweitastenspülsystem dem flüchtigen Charakter badbezogener Wahrnehmungen und Handlungen nicht gerecht wird. Auch konnten in diesem Pilotprojekt noch keine positiven Umweltwirkungen durch die Abtrennung von Urin sichtbar gemacht werden, was einen nicht- bis demotivierenden Effekt auf die Untersuchungsteilnehmer hatte.

Weiterhin werden nachhaltige Koeovolutionen dann erschwert, wenn sich ein negativer oder tabuisierender Austausch um eine Neuerung entwickelt. Dies kann über Worte, aber auch über andere «Zeichen» wie Handlungsspuren geschehen. So setzt man sich z.B. auf einem ungepflegt hinterlassenen Abort nicht gerne ab. Im institutionellen Setting der Gewerbeschule entwickelte sich - begünstigt durch eine positive und sachliche Kommunikation in den Medien sowie durch die pflegliche Reinhaltung der Toiletten durch das Reinigungspersonal ein gesamthaft positiver Austausch über die Neuerung, der auch die allgemeine Akzeptanz zu fördern schien. Die aktive Teilnahme an der Befragung scheint Prozesse der Enttabuisierung und Überzeugung von der Idee in Gang gesetzt zu haben, welche auch einen gewissen Effekt auf die Veränderung der Verhaltensmuster hatte. Im Privatwohnbereich waren Prozesse der Ent- und Retabuisierung des Themas beobachtbar, welche je nach dem zur Verbreitung der Idee und Stabilisierung nachhaltiger Handlungsmuster beitrugen oder diese eben erschwerten.

Um solchen Fallstricken technologischer Erneuerung, welche teilweise als das Ergebnis neuzeitlicher Entwicklungen verstehbar sind, zu entgehen, wird als Alternative zum herkömmlichen Produkt-designprozess ein Phasenmodell partizipativer Technologieentwicklung vorgeschlagen, welches letzten Endes die grundsätzlichen Postulate der Lokalen Agenda 21 unterstützt. Hierin integriert sind verschiedene Einzelempfehlungen auf der Ebene von Partizipation im Produktdesignprozess, kulturell kompatibler sowie naturfreundlicher Produktgestaltung und einer subkulturell differenzierten Produktkommunikation. Neben den konkreten Verbesserungsempfehlungen für den Produktdesign-prozess des NoMix WCs, ist dies der generellste wie zugleich wohl diskutabelste Beitrag dieser Arbeit zur Frage einer ebenso mensch- wie naturfreundlichen Technikentwicklung.

 

Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie (IKAÖ) der Universität Bern (1988-2013)
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